Sabine Müller
Einführungsvortrag zur Ausstellung „Malerei“ von Dorothee Joachim in der Artothek Köln, 4. Mai 1995

Die Bilder von Dorothee Joachim wirken zunächst eher zurückhaltend. Sie wollen sich nicht aufdrängen, den Raum nicht zu stark dominieren. Sie behaupten sich einfach als auf der Wand schwebende Flächen. Die Aufmerksamkeit wird auf den Prozess des Malens selbst gelenkt, ein Vorgang, der sich in der Zeit und in der räumlichen Bewegung vollzieht. Malerei als Prozess bedeutet, dass das Bild dem Betrachter keine eindeutige, absolute Interpretation von Malerei liefert. Stattdessen wird dem Betrachter zugemutet, Malerei in ihrer Bedingtheit zu erleben.

Der zentrale Bereich der Ausstellung ist ganz der Grundfarbe Blau gewidmet. Dadurch wird eine Situation geschaffen, die durch den Vergleich die Wahrnehmung für die feinen Unterschiede in den Farbstufen sensibilisiert. Diese Sensibilisierung erfordert vor allem Zeit. Jeder Betrachter, ganz gleich, ob er die Bilder zum ersten oder zum wiederholten Mal sieht – wie im übrigen auch die Künstlerin selbst –, muss bei jeder Begegnung aufs Neue Zeit investieren, um diese Bilder wirklich zu sehen. Erst im Laufe der Zeit setzt sich ein Wahrnehmungsprozess in Gang, der im Grunde genommen nie zum Ende kommt. Fangen die Bilder erst einmal an, sich zu zeigen, wird schnell klar, dass diese Veränderung zwar in einem gewissen Rahmen bleibt, dem Wesen nach aber unendliche Varianten bietet.

Es gibt kein ins Auge springendes Detail, das dem Blick Gelegenheit böte, sich daran festzuhalten. Solche Details oder Markierungen haben in der Tat die Tendenz, zwischen Betrachter und Bild eine Distanz herzustellen, die das Erleben des Bildes in seiner Ganzheit erschwert. Deshalb werden starke Kontraste vermieden, auch bei den Bildern, die mit einem 2-Farb-Klang arbeiten – wie auf der Galerie zu sehen -, bleibt der Kontur weich und die Farben in der Chromatik nah miteinander verwandt.

Eine wesentliche Eigenschaft der Farbflächen ist ihre Modulation. Das Auge, das zwischen den geringen Kontrasten hin und her springt, nimmt eine solche Fläche als bewegt wahr. Die Bewegung ist aber nur minimal, sie hat keine große Tiefe, bleibt eher in der Fläche eingespannt. Daraus erklärt sich der Eindruck einer Membran oder einer elastischen, sich dehnenden und wieder zusammenziehenden Haut. Es wurde auch gesagt, dass in diesen Bildern die Farbe zu atmen scheint. Das bedeutet, dass durch die Farbe Gefühlsbereiche angesprochen werden, die in Verbindung mit der Vorstellung von etwas Lebendigem stehen.

Aber auch die Modulation bleibt zurückhaltend. Sie hat nichts Flauschig-Schmeichelhaftes, das einem haptischen Bedürfnis entgegenkäme. Hier soll kein nebulöses Gewölk die Sinne bezaubern, ebenso wenig soll die Farbe zu einer verführerischen Substanz materialisiert werden. Die Modulation ist nicht eigentlich gemacht, sondern als Ergebnis der Reaktion von Farbe und Untergrund wie beiläufig entstanden. Sie wirkt organisch, wie eine materialspezifische, gewachsene Textur.

Die Bilder entstehen in einem langwierigen, mit großem Bedacht sich wiederholenden Prozess. In einer Art Lasurmalerei wird eine Acrylemulsion, die nur geringe Anteile reinfarbiger Pigmente enthält, flächendeckend auf den grundierten Träger aufgetragen. Nach der Trocknung erfolgen jeweils neue Schichten mit anderen Pigmentbeimischungen, so dass sich allmählich eine relative Farbdichte entwickelt, bei der fast nur das reine Pigment auf den Graten des Bildträgers stehen bleibt. Das Licht erfährt auf dieser fein strukturierten Fläche vielfältige Brechungen. Dadurch erklärt sich die erstaunliche Empfindlichkeit der Bilder, im Sinne ihrer stark vom Licht abhängigen Erscheinung. Je nach Intensität und Einfallswinkel des Lichtes und je nach der Perspektive des Betrachters entsteht jeweils eine andere Farbstimmung. Darüber hinaus verändert sich die Farbwahrnehmung beim einzelnen Betrachter durch die Dauer des Schauens. Es ist bekannt, dass die Erkennung feiner Farbnuancen eine lange Adaption des Auges erfordert. Folglich sind diese Bilder für jeden Betrachter in jedem Augenblick einzigartig. Malerei wird als persönliche Erfahrung erlebt, die nicht wiederholbar, schon gar nicht reproduzierbar ist. Sie ist unmittelbares Phänomen und nicht Darstellung von etwas.

Man kann sagen, dass Dorothee Joachim in ihrer Malerei das Verhalten der Farbe in Verbindung mit der Form untersucht. Obwohl es widersprüchlich klingt, ist dabei aber nicht der Gegenstand selbst, also Farbe und Form, das Entscheidende, sondern der Umgang damit. Gegen den allzu virtuosen, als Beherrschung der Technik verstandenen Umgang mit dem Medium setzt sie eine einfühlsam reagierende Handhabung. Während ihrer Entstehung durchlebt die Farbfläche eine Metamorphose mit zum Teil sehr unterschiedlichen Zwischenstufen. Auf dem Weg zum Bild werden alle möglichen Schattierungen einer breiten Farbskala zugelassen, so dass sich das Bild ganz langsam zum Gelben, Roten oder Blauen hin entwickelt. Diese Einzelschritte bis hin zur schlussendlichen Entscheidung, den Vorgang als abgeschlossen zu akzeptieren und die Fläche so wie sie ist stehen zu lassen, erfolgen nach rein subjektiven Erwägungen als Antwort auf den momentanen Zustand der Farbe.

Dasselbe gilt für die Form. Jede Form bedingt ihre Gegenform. Bei den frühen Bildern auf der Galerie verbinden sich Form und Gegenform noch innerhalb eines Bildgevierts. Eine ovale Binnenform bildet mit den recht unruhigen, unregelmäßigen Restformen einen starken Kontrast, der durch die Farbigkeit so aufgefangen werden muss, dass die Formen in ihrer Wertigkeit zu einer spannungsreichen Harmonie finden.

Dieses Prinzip der Dualität wird noch radikaler umgesetzt, wenn zwei Einzelbilder, die für sich jeweils autonom sind, dicht nebeneinander gehängt werden. In den neuesten Bildern hat sich diese Variante so weit verselbständigt, dass auf die Untergliederung der Farbfläche im Einzelbild völlig verzichtet werden konnte. Die Farbe kann sich nun auf der gesamten Fläche ausbreiten, entwickelt sich aber in gegenseitiger Wechselbeziehung mit ihrem Pendant. In den vielen Stadien ihrer Entstehung ist einmal die rechte, einmal die linke Tafel stärker, bis sich beide auf eine gemeinsame Ebene einpendeln, sozusagen als Paar zusammenwachsen.

In diesen Doppelbildern hat die Farbe im Werk Dorothee Joachims bisher ihre größte Autonomie erreicht. Die Beziehung zu dem Anderen bleibt aber für die Selbstdefinition lebenswichtig. Die Autonomie des Einzelnen wird grundsätzlich in Frage gestellt. Stattdessen werden die Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen, zwischen Bild und Betrachter, Farbe und Licht, Form und Gegenform zum bildtragenden Element. Aus diesem interaktiven Austausch heraus entwickelt sich das stabile, aber nie starre, sondern dynamisch nachgiebige Gerüst dieser Bilder, die statt Hierarchien aufzubauen, jedem Element die ihm gebührende Rolle zugestehen.

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