Jens Peter Koerver: Farbe, Farben / English Version

Bilder sehen
Aus der Ferne, zunächst, erscheint jedes dieser Bilder als ein farbiges, einfarbiges, um bei der Annäherung, mit jedem Schritt, mit der Zeit und allen kommenden Blicken allmählich ein anderes Bild zu werden. Die eine Anfangsfarbe, Ausgangsfarbe, die des ersten Blicks, differenziert sich. An der Kante der Bildfläche ist sie intensiver, dichter, manchmal leuchtend, wie ein Farbkontur. Dann wieder, immer noch am Rand der Bildfläche, erscheint sie transparenter, heller, ein Band, eine Umfassung. Und im Zentrum der Fläche kann sich wiederum ein diese Farbe verdichtendes Feld abzeichnen. Schon diese eine, erste Farbe ist mehr als eine, ist in diversen Zuständen präsent. In die eine Farbe mischt sich anderes, entsteht die Empfindung des Uneindeutigen, einer minimalen Reibung (wie ein Widerstand, den man nicht ganz fassen, benennen kann). Und aus der einen Farbe wird eine Farbigkeit, in die sich sichtlich andere Farbe mischt, eine Vermehrfärbung. So spielt in einem hellen Grün auch Gelb, auch Blau mit, finden sich in einem Blau Indizien für Rot, ist im schnellen, deutlichen Rot anderes Rot, diverses Rot, vielleicht etwas wie Orange vorhanden, möglicherweise weitere, dem Roten ferne, komplementäre Farbe. Ersten Aufschluss gibt ein Blick auf die Schmalseiten des Bildes. Deutlicher sind dort die Spuren der zuvor geahnten Farben (und vielleicht noch ein paar mehr) zu erkennen. Gleich einem (unvollständigen) Index zeigt diese Ansicht – die das Bild aus einer mehr oder weniger engen Frontalsicht zu einem 180°-Anblick weitet – in Flecken und Laufspuren einige der zur Gesamtfarbigkeit des Bildes beitragenden Einzeltöne. Diese nur durch Bewegung vor dem Bild zu gewinnende Perspektive verursacht eine Expansion der mit dem Bild zu machenden Erfahrungen – und relativiert zudem die Dominanz der bloßen Bildfläche über den Körper des Bildganzen.

En face gesehen aber überziehen diese weiteren, anderen Farben die Vorherrschende, Eine, oder sind in sie eingelagert, ihr unterlegt. Zart modifizieren, steigern, verunreinigen sie diese und sind doch kaum mehr als ein Hauch. Oder sie können als winzige Partikel vorhanden und wirksam sein. Oder sie liegen, einer diffusen, diskreten Ausflockung ähnlich, verborgen inmitten der Farbe, erscheinend und wieder verschwindend zeigen sie sich dann und wann. So ist sich das Auge nicht sicher; das wieder Sehen vergewissert nicht durch Wiedersehen, verwandelt sich vielmehr unwillkürlich in ein Anderessehen, Weitersehen (mit den Farben gibt es nur einen Anfang, kein Ende). Wie sich überhaupt die Farbigkeiten der Bilder Dorothee Joachims entziehen. Unscharf, provisorisch bleiben die Benennungsversuche des Gesehenen, da die Färbung einer jeden dieser Malereien dieses und jenes ist, vieldeutig bleibt. Neben vergleichsweise klaren, bekannten Farben ereignen sich in den Bildern Rand- und Zwischenzwischenfarben, fast gelöschte, verhaltene Färbungen – Grau, aber auch Grün, Grünblau, aber auch... Dissidenten der Farbüblichkeiten, nicht immer angenehm oder zutraulich; manche bleiben (zunächst) verschlossen, ziehen sich zurück, können fremd bleiben, unerkennbare, vermeintlich arme Farben. Und solche, die von Anfang an präsent sind, leuchtender, leichter, mithin zugänglicher zunächst, aber auch sie erweisen sich als nicht frei von Irritationen, Kontaminationen.

Die Farbe ist nicht allein Färbung, sie ist auch Material. Ihre Stofflichkeit variiert und trägt bei zur Individualität der Farbgestalt eines jeden Bildes. Manche zeigen ein äußerst feines Craquelé, auch kann sich die Körnung des Pigments bemerkbar machen. Die Bildfarbe kann verhalten glänzen oder matt, fast stumpf sein... Neutral, eigenschaftslos ist sie nie, zeigt sich vielmehr als im Bild realisierte, im Betrachten zu realisierende Farbigkeit.

Bilder malen
Dorothee Joachims Arbeiten entstehen stets in größeren Gruppen, wobei die Formate innerhalb einer Gruppe in den letzten Jahren variieren. Als Farbträger verwendet sie seit 2001 meist MDF-Tafeln, die mit einer vorproduzierten Zwischenschicht aus Melaminharz versehen sind. Über dieser legt sie eine sorgfältige, von allen Makeln des Auftrags gereinigte Grundierung an, mit der für die Künstlerin bereits das Malen beginnt, das sie als „Aufspeicherung von Zuwendung“ beschreibt, als einen Akt der allmählichen Anreicherung. Der Bildkörper wird an der Wand bearbeitet. Die Farben – hoch verdünntes Acryl und Pigmente – malt sie in transparenten Lasuren mit dem Pinsel, trägt sie als minimal färbende, transparente Haut auf, gleichmäßig und möglichst spurlos; überschüssige Farbe wird an der unteren Bildkante wieder abgenommen. Nach dem Trocknen der jeweils frischen Schicht wird das Bild um 180°, dann auch um 90° gedreht, was die Gleichgewichtigkeit aller Bildzonen gewährleistet. Um die Homogenität des Gemalten zu wahren, wird die Bildoberfläche im Zuge der Arbeit – dem Auftrag immer neuer Farbschichten – mitunter durch wiederholte Zwischenschliffe geglättet. Dennoch resultiert aus diesem Vorgehen kein vollkommen einheitliches farbiges Bildfeld. Vielmehr ergeben sich material- und produktionsbedingt die bereits beschriebenen rahmenden Linien und schmalen Bänder, die indikatorischen Farbflecken an den Schmalseiten. Prinzipiell haben in jedem Bild die drei Grundfarben – Gelb, Blau und Rot in verschiedenen Varianten – Verwendung gefunden, auch Orange und Chromoxidhydratgrün feurig sind Teil der Palette Joachims; nicht jedoch Schwarz, so dass sich alle Graunuancen bei ihr ausschließlich der Addition von Bunttönen verdanken. Seit 2009 setzt die Künstlerin auch Zinkweiß ein, was zu einer pastellartig aufgehellten Farbigkeit führt. Die genaue Zusammenstellung der Töne variiert von Gruppe zu Gruppe. Die ersten Arbeitsschritte führen vom Gelb über Blau schließlich zum Rot. Durch dieses Vorgehen ähneln sich die Bilder jeder Gruppe zunächst, sie entwickeln dann aber durch unterschiedliche Abfolgen, Wiederholungen und Dichten der im einzelnen Bild gemalten Farben allmählich ihr individuelles, unwiederholbares Kolorit. Gleichwohl verbindet die im Zusammenhang einer Gruppe entstandenen Bilder eine Familienähnlichkeit, weisen die parallel geschaffenen Arbeiten eine sichtbare, sie alle verbindende Farbmaterialität, einen gemeinsamen Farbcharakter auf (teilen sie doch eine einheitliche Farb-DNA), die sich summarisch etwa als „pastellig und hell“ oder „grau zurückgenommen“ fassen lässt und Dorothee Joachims Bezeichnung der einzelnen Gruppen als „Generationen“ nachvollziehbar macht.

Farbe
Die Gesamtheit aller Farbenbilder der Künstlerin könnte beschrieben werden als Arbeit an einem Kontinuum, als sichtbarer Ausschnitt aus der Fülle der vorstellbaren, zumindest denkbaren Farben. So verstanden verweist jedes einzelne Bild auf diese imaginäre Ganzheit; auch die Entstehung eines jeden realisierten Farbenindividuums trägt, der Möglichkeit nach, diese Totalität in sich, könnten doch aus dem Zusammenspiel der verwendeten Farben theoretisch alle wahrnehmbaren Farbnuancen entwickelt werden. Solche Vollständigkeit wird von Dorothee Joachim nicht angestrebt, viel mehr geht es ihr um die vertiefende Erkundung, das Vor-Augen-Stellen einzelner Zonen des Farbmöglichen. Dabei spielen temporäre Interessen, veränderliche Neugierde, subjektive Entscheidungen, künstlerische Intuition und die unorthodoxe Farbenfreude der Künstlerin eine erhebliche Rolle. Offen für die Diversität des Koloristischen, weitet sie mit jedem Werk, mit jeder „Generation“ den Blick auf neue, andere, so noch nicht gesehene Farben.

Farbe ist immer schon da. Sie ist das Selbstverständliche und Allgegenwärtige, Alltägliche und deshalb auch Unbeachtete, Übersehene. Farbe ist Färbung, eine schöne Zutat der Dinge. Der Malerei aber ist Farbe wesentlich. Selbstverständlich konstituiert sich ein gemaltes Bild aus Farbe. Selbstverständlich kann ein Bild nur Farbe oder Farben präsentieren, ohne etwas anderes mittels dieser Farben zu repräsentieren: Farbe selbst ist der Gegenstand (Material und Thema, Frage und Antwort) der Malerei; diese selbst und sonst nichts wird geboten, also keine unterfütternden, animierenden Titel, keine flankierenden Theorien, kein anekdotischer Begleittext. In ihrer Malerei hat Dorothee Joachim Farbe zu ihrer Sache gemacht. Ihre mögliche Vorgeschichte reicht bis in die Hochzeit der klassischen Moderne zurück (ein denkbarer Anfang hierfür wären die als Endpunkt gedachten drei monochromen Tafeln „Reine Farbe Rot, reine Farbe Gelb, reine Farbe Blau“, die Alexander Rodtschenko 1921 malte) und ließe sich unter verschiedenen Vorzeichen, in diversen Kontexten und mit wechselnden Fragestellungen als eine keineswegs einheitliche Linie in der Geschichte der Malerei quer durch das zwanzigste Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart verfolgen – was Anstöße für bestimmte Bildfarbigkeiten im Werk Dorothee Joachims aus ganz anderen Zonen der Kunstgeschichte ebenso wenig ausschließt wie solche aus in der restlichen Wirklichkeit gesehener, subjektiv erlebter Farbe. Ihrer Malerei ist Farbe ein Faszinosum. Sich auf sie zu beschränken bedeutet Intensivierung durch Konzentration. Das gemalte Bild wird zum Ort der Begegnung mit Farbe. Farbe ist immer schon da. Erst die Malerei aber vermag sie gegenwärtig zu machen.

Farbe, Licht, Dauer
Das Licht ist der Kompagnon dieser Malerei. Das Licht, in dem das Bild gesehen wird, tönt die Farbe (gewiss, ein gelbliches Bild bleibt gelblich), bringt sie eigentlich erst zur Erscheinung. Licht, zumal Tageslicht, ist kein Neutrum, vielmehr das veränderliche Medium, in dem Sehen stattfindet (auch dessen Voraussetzung). Mit dem jeweils herrschenden Licht zeigt sich eine der im Bild angelegten Möglichkeiten, insoweit ist das Licht – es sei so gut oder schlecht wie es der Ort, der Raum hergibt – der Mitverwirklicher des Bildes. Es zeigt die einzelne Arbeit, indem es die gemalten Farben ins Kältere oder Wärmere, ins Klare oder Diffuse rückt, spektrale Anteile betont, andere überblendet.

Ebenso wie die Bilder Dorothee Joachims Tageslichtbilder sind (obwohl sie auch bei Kunstlicht entstehen), sind sie Langzeitbilder, die sich nur nach und nach zeigen. Will man sie kennen lernen, so muss man sich mit ihnen umgeben, ihnen Zeit lassen und sie im Licht unterschiedlicher Tages- und Jahreszeiten sehen, bei intensiver Helligkeit und auch noch im schwindenden Licht der Dämmerung. Eine jede Lichtsituation zeigt andere Nuancen, was zugleich bedeutet: es gibt diese nie alle zugleich, es gibt sie als Gelegenheiten, Augenblicke – das ganze Bild wäre die Summe aller dieser unterschiedlichen Möglichkeiten, Erscheinungsweisen, dieser Realisierungen durch das Licht.

True Value
Der Titel True Value verdankt sich einem Zufallsfund – während einer Nordamerika-Reise stieß die Künstlerin auf ein Farben- und Haushaltswarengeschäft dieses um Vertrauen werbenden Namens; er prägte sich ein und wurde als Name für eine Ausstellung und diese Publikation unentbehrlich. Zunächst klingt die zur Phrase gewordene Formulierung vom „wahren Wert“ verschmockt, verlangt nach ironischer Brechung. In Zeiten umfassender, keineswegs glücklich verlaufender Ökonomisierung wirkt die Wortkombination allerdings schon wieder renitent, weist hin auf den Stellenwert von Kunst und Kultur.

Darüber hinaus bietet dieser Titel aber auch verschiedene Anbindungen an das Thema Farbe. Ein verbreitetes physikalisches Farbsystem basiert auf den Begriffen Chroma (Farbsättigung), Hue (Farbton) und Value (Helligkeitsgrad). Value meint auch die Nuance, Valeur wäre eine andere Übersetzung. In der Arbeit von Dorothee Joachim geht es um eben diese Feinabstufungen von Farbwerten. Sie verfolgt die Tarierung um Nuancen mittels lasierender Malerei, bis sich der wahre (Bildfarben-)Wert einstellt, das Bild seine Farbigkeit gefunden hat, ein Vis-à-vis geworden ist.

In den Bildern Dorothee Joachims ist Farbe als Farben zu sehen, nicht mehr und nicht weniger (nichts sonst, sonst nichts). Sie betrachtend erfährt sich das Sehen in seiner Fähigkeit zur koloristischen Nuancierung; der Farbe als dem wesentlichen Stoff der Malerei entspricht dieses differenzierte Farbensehen als wesentliches Vermögen des Auges. Die Sorgfalt des Sehens, seine ungeteilte Aufmerksamkeit sind essentielle Formen der Wertschätzung.

Top