Peter Lodermeyer: Malerei im Prozess. Dorothee Joachims neue Papierarbeiten / English Version

Sehen heißt nicht notwendigerweise verstehen. Auch die lange und konzentrierte Betrachtung eines Kunstwerks kann letztlich zu unrichtigen Annahmen führen, die dann wiederum auf das Sehen zurückwirken. „Man sieht nur, was man weiß“ lautet eine Grundeinsicht, die weit über die Kunstbetrachtung hinaus gilt, eine Aussage, die dadurch nichts von ihrer Richtigkeit einbüßt, dass sie im Werk ihres angeblichen Autors Johann Wolfgang von Goethe nicht nachweisbar ist. Die neuen, im Kölner Ausstellungsraum kjubh präsentierten Arbeiten von Dorothee Joachim bestätigen den Satz aufs anschaulichste. Schon die Tatsache, dass, grob eingeteilt, zwei unterschiedliche Typen von Arbeiten zu sehen sind, ist für die Ausstellungsbesucher Anlass zum Spekulieren über deren inneren Zusammenhang. Insbesondere jene Werke, die auf einem dickeren Bildträger flach an der Wand befestigt sind, erscheinen erklärungsbedürftig. Denn die Tatsache, dass ihre Farbfelder jeweils von weißen Rändern umgeben sind, an denen sich zahlreiche Farbspuren, Spritzer, Streifen oder Verwischungen finden, deutet auf einen dynamischen Malprozess, dessen Eigenheiten jedoch nicht unmittelbar einsichtig sind. Dies gilt noch mehr von den Farbfeldern selbst, den irregulären, „chaotischen“ Farb-„Wolken“ und ihrer porösen Binnenstruktur. Zumindest wird sofort deutlich, dass diese Farbformen nicht in herkömmlicher Malweise mit dem Pinsel aufgetragen wurden. Zudem stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang diese Arbeiten mit dem zweiten Typus stehen, den ganzflächig mit Farbe versehenen dünnen Papieren, die in der Ausstellung mit winzigen Magneten so auf Abstandshaltern fixiert sind, dass sie vor der Wand schweben und sich aufgrund ihrer Eigenspannung leicht konkav oder konvex von ihr weg wölben.

Man sieht die Papierarbeiten von Dorothee Joachim, die seit Ende 2014 entstehen, mit anderen Augen und neuer Aufmerksamkeit, wenn man zumindest die wichtigsten Fakten über ihren Entstehungsprozess kennt. Am Anfang stand Joachims Entdeckung Ende der 1990er-Jahre, dass sich beim Aquarellieren auf den Rückseiten des Papiers, der inneren Logik des Arbeitsprozesses folgend, faszinierende Farbstrukturen herausbildeten, die sich in ihrer Andersartigkeit als ebenso interessant und künstlerisch ergiebig erwiesen wie die eigentlichen Malflächen. Die übliche Hierarchisierung der beiden Flächen des Bildträgers Papier – eine kunstwürdige, intentional bearbeitete Vorder- und eine allenfalls zufällig mit Farbe bedeckte irrelevante Rückseite – war mit dieser Entdeckung fragwürdig geworden. In Zusammenhang mit einem Arbeitsaufenthalt in Südfrankreich 2010, wo sie vor Ort entstandene Aquarelle ausstellte, wurde Dorothee Joachim zunehmend darauf aufmerksam, dass es noch eine dritte ästhetisch relevante Farbfläche gab, nämlich die Unterlage, auf der das Papier beim Malen aufliegt. Im September 2014 begann sie dann damit, diese Phänomene systematischer und unter Verwendung unterschiedlicher Papiere zu erforschen. Bei den klassischen Aquarellpapieren kriechen die Wasserfarben von den Blatt-rändern her zwischen Papier und Unterlage und bringen rückseitig Strukturen hervor, die ein wenig an die Wachstumsringe von Bäumen erinnern. Bei den viel dünneren, feinporigen und saugkräftigen Japanpapieren hingegen arbeitet sich die Farbe durch das gesamte Blatt bis zur Unterlage hindurch und erzeugt somit wieder ganz andere Farbformen. Es ergeben sich also aus jedem Malvorgang zwei verschiedene Resultate, die bestenfalls auch zwei Kunstwerke sein können: das von Farbe nicht nur beidseitig bedeckte, sondern völlig durchdrungene Japanpapier und die jeweils weiß grundierte Unterlage aus Bristolkarton oder mit Papier kaschiertem Leichtschaum (Foamboard), die sich im Kontakt mit dem darüberliegenden Papier – dem Blick der Künstlerin entzogen – gleichsam eigentätig in ein Bild verwandelt hat.

Wer mit Dorothee Joachims Gemälden der letzten gut 20 Jahre vertraut ist, wird von den mehrfarbigen neuen Papierarbeiten womöglich überrascht sein. Die früheren Gemälde sind auf den ersten Blick leicht als vollflächig gemalte Monochromien misszuverstehen. Zumindest kann man sie so auffassen, wenn man von der Annahme ausgeht, dass es bei ihnen primär um das Erzeugen einer Farbwirkung geht, die sich bei der Betrachtung aus gemessenem Abstand ergibt. Doch wenn man sich diese Arbeiten, die mit Aberhunderten Schichten extrem verdünnter Acrylfarbe auf grundierten, porzellanglatt geschliffenen MDF-Platten gemalt sind, aus der Nähe anschaut, wird deutlich, dass sie keineswegs monochrom, sondern aus mehreren Farben (tatsächlich immer Gelb, Rot und Blau) aufgebaut sind. Außerdem bemerkt man dann die ungemein differenzierten Mikrostrukturen im Farbmaterial, eine Feintextur, die sich keineswegs homogen über die Fläche erstreckt, sondern insbesondere an den Bildrändern eigenwillige Varianten ausbildet. Es sind genau diese sich „von selbst“ einstellenden, dem eigenen Wollen entzogenen Strukturen, Craquelées und Unregelmäßigkeiten, auf die Dorothee Joachim hofft – Formen, die nicht intentional, aber auch nicht zufällig zu nennen sind, da sie sich mit naturgesetzlicher Notwendigkeit aufgrund der spezifischen Materialeigenschaften der zum Einsatz kommenden Werkstoffe (MDF, Grundiermittel, Wasser, Acrylbinder, Pigmente) ergeben. Genau dies aber verbindet die Gemälde mit den neuen Papierarbeiten, die ebenfalls aus einem nur bedingt steuerbaren Eigengeschehen der beteiligten Materialien resultieren. Dieser innere Zusammenhang ist der Grund dafür, dass Dorothee Joachim zwei MDF-Arbeiten von ungefähr gleicher Farbigkeit – ein unbestimmbares Grüngrau – in die Ausstellung im kjubh integrierte. Die beiden Gemälde von 2008 hängen einander genau gegenüber und etablieren so eine virtuelle Mittelachse im Hauptraum, die für die Ausstellungsbesucher eine bewusst oder unbewusst wahrgenommene Orientierungshilfe in der Fülle der insgesamt 30 präsentierten Arbeiten bietet.

Der Malprozess der neuen Papierarbeiten erinnert an wissenschaftliche Experimente unter Laborbedingungen. Dorothee Joachim hat immer wieder die Parameter verändert, um zu erforschen, wie sich dies auf das Ergebnis auswirkt: Japanpapiere unterschiedlicher Dicke, verschiedene Blattgrößen, verschiedene Farben, unterschiedliche Methoden des Befeuchtens und verschiedene Durchfeuchtungsgrade des Papiers. Doch letztlich lassen sich Faktoren wie die hygro- und hydrologischen Vorgänge, die Trocknungsprozesse, die chemischen Reaktionen zwischen den Pigmenten nie vollständig steuern. Es ist genau dieser Rest an Unverfügbarkeit, der das Spannungsmoment im Malprozess ausmacht. Er bewirkt das Wachsen und Werden der Bilder aus der Eigendynamik der Materialien, an dem Dorothee Joachim lebhaft interessiert ist. Sie kann zwar Entscheidungen treffen (welche Farben und in welcher Reihenfolge, welche Farbintensität...), doch das eigentliche Bildgeschehen ist nur sehr bedingt beeinflussbar. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Experiment ist nicht jedes Resultat bedeutsam. Es geht um Ästhetik, nicht um Wissen, und so ist es allein Sache der Künstlerin, zu entscheiden, welches Ergebnis sie als Kunstwerk akzeptiert, und – im Fall der Arbeiten mit Japanpapier – welche der beiden Seiten und in welcher Ausrichtung Gültigkeit besitzt (da die Vertikalität der Blätter eine vorab entschiedene Konstante ist – im Unterschied zu den stets horizontal gerichteten Gemälden auf MDF –, gibt es jeweils genau vier Möglichkeiten).

Die Farbstrukturen erwachsen also in einem naturanalogen Formungsprozess aus dem Zusammenspiel von flüssiger Farbe, Papier und dem physischen Kontakt von Papier und grundierter Unterlage. Mit einem alten philosophischen Begriff könnte man von natura naturans sprechen, Natur in ihrer immanenten schöpferischen, formbildenden Potenz (im Gegensatz zur natura naturata, den Naturdingen in ihrem geschaffenen So-Sein). Dorothee Joachims Begriff von Malerei, der das Material in seinem Eigenwillen als gleichberechtigten Partner im Malprozess anerkennt, entspricht ein prozesshaftes Sehen, das den Arbeiten – um deren Entstehungsbedingungen wissend – in allen Aspekten ihrer Farbigkeit, Materialität und Präsenz im Raum nachspürt und sie so als Auslöser möglicher ästhetischer Erfahrung zu verstehen lernt.

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