Thomas von Taschitzki: Gelassenheit der Farbe / English Version

Farbe zu sich selbst kommen lassen –  auf diese Formel könnte man eine wesentliche Qualität der Bilder von Dorothee Joachim bringen.

Bilder langsam wachsen lassen – diese Metapher liegt nahe beim Einblick in den Entstehungsprozess der Bilder.

Offensichtlich liegt im Lassen ein wichtiges Moment der Malerei von Dorothee Joachim. Im Laufe ihrer langjährigen künstlerischen Konzentration auf das Phänomen Farbe hat sie ein Malverfahren entwickelt, das in sehr weitgehendem Maße den Mitteln und Bedingungen des Malens das Terrain überlässt. Betrachtet man die Malereigeschichte aus der Mikroperspektive der verwendeten Farbpigmente, so stellen die Bilder von Dorothee Joachim einen Extremfall dar – denjenigen einer freien Platzwahl der einzelnen Pigmentpartikel.

Die Bilder entstehen im Verlauf eines langen, gleichermaßen von Disziplin wie Offenheit, von Systematik wie Intuition geprägten Prozesses. In ihrer jüngsten Werkgruppe der Arbeiten auf Holz beschränkt Dorothee Joachim ihre malerischen Eingriffe auf die Handlung des bloßen horizontalen Aufstreichens dünnflüssiger Farblösung auf den senkrecht an der Wand hängenden Bildträger. Es bleibt dem Zusammenwirken von Farbpigment, Bindemittel, Wasser, Bildgrund und Schwerkraft überlassen, wie sich die Pigmente auf dem Bild anordnen und anlagern. Das stetig wiederholte, bei einigen Bildern bis zu über hundert Mal vollzogene gleichmäßige Auftragen, Fließenlassen und Trocknenlassen sind Vorgänge, bei denen es vor allem auf das Geschehenlassen von etwas ankommt, das sich selbst beziehungsweise den Naturgesetzen gehorcht. In diesem Sinne ermöglicht Dorothee Joachim den Farbpigmenten, sich auf dem Bild ihren Platz, ihre Nachbarschaften, ihre Anziehungen und Abstoßungen selbst zu suchen. Das Malen wird zu einem gezielt vorbereiteten selbstregulativen Anlagerungs-  und Verdichtungsprozeß der Pigmente.

Die experimentelle Natur dieses Verfahrens zeigt sich unter anderem im Auftauchen von Phänomenen, deren Ursachen sich nicht immer vollständig erklären lassen. Zu ihnen zählt die bemerkenswerte, auratisch anmutende Pigmentverdichtung im Zentrum einiger Bilder. Das schwerelos schwebende, an seinen Rändern sich diffus auflösende Feld wirkt wie ein innerbildliches Echo des Bildgevierts. Die querrechteckige Bildgestalt scheint sich schattenhaft ins Bild einzuschreiben – das Bildfeld wird zum farblichen Resonanzraum seiner eigenen Gestalt.

Eine wesentliche Ursache dieses Phänomens liegt sicherlich in einer Maßnahme, die auf der systematischen, konzeptuellen Seite des Malverfahrens angesiedelt ist. Vor jedem neuerlichen Malvorgang dreht die Künstlerin das Bild abwechselnd um 180 und 90 Grad, um ein Höchstmaß an Gleichmäßigkeit und auch Gleichwertigkeit der gesamten Bildfläche zu gewährleisten. Dieses Vorgehen lässt auch den Bildkörper im Verein mit der Schwerkraft am Ergebnis mitwirken. Es ermöglicht dem Bildrechteck und der herabfließenden Farblasur, sich allseitig aufeinander zu beziehen. Indem alle vier Positionen des Bildes im Verlauf der Werkentstehung gleich wichtig sind, wird das Bild vollkommen gleichgewichtig.

Auch andere Phänomene lassen sich auf diese Vorgehensweise zurückführen. Aus der Nähe betrachtet – und zum genauen Sehen laden die Arbeiten mit ihrer feinen Oberflächenstruktur geradezu ein – zeigt sich parallel zu den Bildkanten eine dünne Linie. Diese Farbablagerungen bilden sich beim Trocknen der herabgelaufenen Farbe und verleihen den Bildern eine subtile, gewissermaßen selbstgenerierte Rahmung.

An den schmalen Außenseiten der Bilder fallen vereinzelte Farbflecke aus gelbem, rotem oder blauem Pigment auf. Diese ihrer Form und Verteilung nach chaotisch-zufälligen Relikte des flüssigen bildnerischen Aggregatzustandes erlauben einen nachträglichen analytischen Einblick in die farbliche Zusammensetzung der Bilder.

Der systemtheoretische Begriff der Homöostase bezeichnet die Fähigkeit eines Systems, sich durch Rückkopplung in einem stabilen, balancierten Zustand zu halten. Was in den Bildern von Dorothee Joachim entsteht, kann in einem freien, übertragenen Sinne als eine bildnerische Homöostase begriffen werden, als ein von der Künstlerin gesteuerter sensibler Prozess der bildnerischen Selbstregulation und -organisation, in dessen Verlauf es zu einer zunehmenden Verdichtung und zu einer Ausbalancierung aller beteiligten Kräfte kommt. So verstanden ist die Metapher vom allmählichen Wachsen-lassen des Bildes beinah wörtlich zu nehmen. Anders als in der Natur ist die Genetik der Bilder aber, was ihren Phänotyp angeht, völlig ergebnisoffen angelegt. Der intuitive und experimentelle Anteil der Bildentstehung ermöglicht, im Rahmen einer auf die drei Primärfarben festgelegten Farbsystematik, permanente, auch für die Künstlerin selbst unvorhersehbare farbliche Mutationen. Der am Ende entstehende Farbton eines Bildes entspricht einer visuellen Summe aller vorangegangenen Entscheidungen und Ereignisse. Die Farbe und damit das Bild als Ganzes kommen zu sich selbst, zu einer allmählich gewachsenen Identität. Dass auf andere Weise auch der Beschauer in der Betrachtung einer solchen gewachsenen Farbindividualität zu sich selbst kommen kann, soll am Ende als Möglichkeit nicht unerwähnt bleiben.

(in: Dorothee Joachim, Der innere Raum, Kunst aus NRW, Ehemalige Reichsabtei Aachen-Kornelimünster, 2007)

 

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